Die Flatterzunge by Friedrich Christian Delius

Die Flatterzunge by Friedrich Christian Delius

Autor:Friedrich Christian Delius [Delius, Friedrich Christian]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erzählung
ISBN: 9783644035812
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-01-18T16:00:00+00:00


Manchmal stell ich mir vor, Ihnen etwas vorzuspielen, Herr Richter. Mit Flatterzunge und allen Schikanen. Schöne Passagen aus der «Frau ohne Schatten», gerade da hat Strauss auf die Flatterzunge viel Wert gelegt. Die Zunge beim Blasen zwischen den Lippen flattern lassen und damit ein schnarrendes oder prasselndes Vibrato erzeugen, das sind so die kleinen Vergnügen eines Blechmenschen, wenn er mal nicht zum Taktezählen verurteilt ist.

Unter Prinzessinnen in rosa Gewändern saß Marlene O., ich hatte drei Elefanten zur Seite, den Blick auf liebliche Stadtansichten hinter zartblauen Gewässern. Nur vier von zehn oder zwölf Tischen besetzt, ich dachte: Warum entführt sie mich in ein kitschiges Morgenland? Immerhin, sie kannte sich in der Speisekarte aus, unterteilt nach Regionen und Gewürzmischungen.

Sie entschied sich für Huhn Vindaloo. Das Fleisch in Essig gekocht, erklärte die Speisekarte, mit Kartoffeln, Ingwer, Cumin und pikanten Nelken. Auf den Ingwer komme es an, sagte Marlene. Ich bestellte Lamm Korma, mit Kokosnuss, Kardamom, Rosinen, Mandeln.

«Warum entführen Sie mich nach Indien?»

«Entführen? Sie haben ja eine flotte Phantasie.»

«Ich weiß, die Tür ist hinter mir, zehn Schritte.»

«Wenn Sie es wissen wollen, ich bin nie nach Indien gekommen. Einmal, nach dem Studium, wollten wir zu viert im VW-Bus los, vier, fünf Monate waren geplant, dann wurde ich vierzehn Tage vor der Abfahrt krank, die andern fanden schnell Ersatz für mich – seitdem ist das so ein Tick von mir, dreimal oder viermal im Jahr indisch essen.»

«Und Sie sind nie nach Indien gereist?»

«Nein.»

Die Gemälde mit übertriebenem Rosa und Blau waren direkt auf die Blumenmuster der alten Tapete gepinselt. Wer war vor den Indern in diesem Lokal? Rund dreißig Jahre in Berlin, ich wusste es nicht.

«Indien war mal groß in Mode.»

«Ja, ich geb es zu, auch ich bin mit der Mode gegangen.»

Wieder dieser spitze Ton. Sie wischte sich verlegen das Haar aus der Stirn und lächelte, als wolle sie ihre Schroffheit zurücknehmen.

Testet sie mich, dachte ich, erwartet sie jetzt, dass ich frage: Fahren Sie mit mir?

«Mich hat es nie nach Indien gezogen.»

«Aber nach Israel.»

Die flinke Frechheit gefiel mir. Sie goss uns Tee ein, der nach Zimt duftete.

Sie hatte das Stichwort gegeben, ich wollte den heiklen Punkt noch vor dem Essen hinter mich bringen.

«Also, Sie wollten eine Antwort. Ich habe in diesem blöden Augenblick in Tel Aviv die Wahrheit gesagt, glaube ich. Vielleicht spinne ich, aber … steckt nicht in jedem von uns, nicht nur uns Deutschen, der Bruchbruchteil eines Nazis, auch wenn wir noch so demokratisch, noch so prosemitisch, noch so aufgeklärt sind?»

«Sprechen Sie von Kollektivschuld?»

«Keine Ahnung, ich versteh nichts von solchen Begriffen … ich meine das nicht genetisch, sondern geschichtlich … Wissen Sie, auf dem Rückflug, als sie mich zur Strafe zurückjagten, saß ich neben einem Menschen, einem Reiseleiter, der sagte: Immer wenn ich in Israel bin, spüre ich den Holocaust im Gepäck, dauernd, überall … Jeder Atemzug ist politisch … Und wenn Sie Deutscher sind, dann wandeln Sie wie Jesus auf einem Pulverfass … Nein, nicht wie Jesus, aber über einen Haufen von Pulverfässern … Wenn Sie von morgens bis abends und nachts im Fernsehen



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